Chinas Selbstbewusstsein und unsere Irrtümer über die Supermacht: Ein Gespräch mit dem britischen Autor Martin Jacques, der “When China Rules the World” schrieb
Martin Jacques, 65, ist Autor des Buches „When China Rules the World“, das 2009 erschienen ist. Es ist bislang nicht ins Deutsche übersetzt worden. Jacques argumentiert darin, dass der Aufstieg Chinas eine völlig neue Weltordnung mit eigenen Regeln hervorbringen wird. Der britische Journalist und frühere Herausgeber der Zeitschrift „Marxism today“ lehrt an der London School of Economics sowie an Universitäten in China, Japan und Singapur.
Herr Jacques, der Westen verurteilt die Verhaftung des chinesischen Künstlers Ai Weiwei und anderer Aktivisten in dem Land scharf. Das Land steht unter Beobachtung. Verstehen wir China überhaupt?
Nein, das glaube ich nicht.
Wir verstehen erbärmlich wenig von China. Ich halte die Verhaftung von Ai Weiwei weder für richtig noch für klug. Aber wir haben ein grundlegendes Problem, wenn wir über China reden. Wir messen das Land nur mit unseren eigenen Maßstäben, denen des Westens.
Werden wirtschaftliches Wachstum und Modernisierung China nicht automatisch dem westlichen Modell näher bringen?
Diese These gilt ebenso wenig für China wie für Indien, Brasilien, Indonesien oder Malaysia. Beim Prozess der Modernisierung geht es nicht nur um Technologien, Märkte und Wettbewerb. Dieser Prozess wird mindestens in dem gleichen Maße geprägt durch Geschichte und Kultur. In China haben wir eine sehr alte, sehr tief verankerte und hoch bedeutsame Kultur. Sie wird nie in einem umfassenden Sinn westlich werden.
Welche Rolle spielt die chinesische Geschichte für das heutige China?
Die chinesische Geschichte unterscheidet sich fundamental von unserer Erfahrung des Nationalstaates. Wir halten den Nationalstaat für eine globale Instanz, das war er auch 200 Jahre lang. Zwar hat sich auch China in den vergangenen einhundert Jahren als Nationalstaat verstanden. Seine Existenz als Staatsgebilde aber reicht mindestens zurück bis ins Jahr 211 vor Christus. China hatte eine rund 2000 Jahre lange, ununterbrochene Geschichte als Kulturstaat hinter sich gebracht, bevor Ende des 19. Jahrhunderts die Kolonialmächte kamen. Ein Kulturstaat ist China bis heute, und die Chinesen halten ihre Kultur allen anderen Kulturen für überlegen.
Sie illustrieren Ihre These auch an einer Episode, in der Henry Kissinger und Tschou en Lai eine Rolle spielen.
Es gibt da diesen Dialog zwischen US-Außenminister Henry Kissinger und dem chinesischen Premierminister Tschou en Lai. Ob es sich so zugetragen hat, weiß ich nicht, aber es ist bezeichnend. Kissinger fragte, was Tschou en Lai von der Französischen Revolution halte. Der Premier antwortete: Es ist noch zu früh, um darüber zu urteilen. Das zeigt, wie außerordentlich bedeutsam die eigene, sehr lange Geschichte für jeden Chinesen ist. Während die vergleichsweise kurze, nur rund 250-jährigen Geschichte der Vereinigten Staaten auf der Zerstörung der vorherigen Ordnung aufbaut. Das amerikanische Zeitbewusstsein bezieht sich immer nur auf die Gegenwart, das chinesische ist völlig anders.
Gibt es in China eine Tradition, die das Individuum gegenüber der Gemeinschaft stärkt?
Ja, aber sie sind vergleichsweise schwach. Die chinesische Kultur misst dem Kollektiv den höheren Stellenwert zu. Das hängt zusammen mit der Bedeutung des Staates in dieser mehr als 2000 Jahre alten Geschichte. Sein Ziel war es immer, das riesige Landes zusammenzu- halten. Deshalb messen Chinesen den Werten Einheit, Stabilität und Ordnung eine so große Bedeutung zu. Dass es über diesen langen Zeitraum gelang, die Einheit des Landes zu bewahren, ist ohne Beispiel in der Welt.
Welchen Zusammenhang gibt es zwischen der Bedeutung der Kultur und der Rolle des Staates?
Die Chinesen sehen im Staat den Hüter der Einheit des Landes und den Hüter der Kultur. Das gibt dem chinesischen Staat in den Augen des Volkes eine besonders starke Legitimität. Mehr als 1000 Jahre lang wurde der chinesische Staat nicht von anderen Kräften herausgefordert, weder durch die Kirche noch durch Kaufleute. Der Staat erfuhr in dieser Zeit keinerlei Grenzen seiner Macht. China war das Zentrum eines Systems von Tribut-Staaten in Ostasien. Ich sage voraus, dass Elemente dieses Tributsystems bei der Umgestaltung der Wirtschaft der Region wiederkehren werden.
Muss sich der Westen von dem Glauben verabschieden, dass die Welt sich früher oder später in seine Richtung entwickeln wird?
In den vergangenen 200 Jahren wurde die Welt vom Westen beherrscht und gestaltet, erst von westeuropäischen Ländern, dann von den USA. Eine außergewöhnliche Dominanz war das, bis heute ist die Welt westlich geprägt, von Alltagsgegenständen angefangen über die Sprache, die Währung, die politischen Institutionen. Das verdanken wir aber nicht unserer moralischen Überlegenheit, sondern vor allem unserer wirtschaftlichen Dominanz, die politische, ideologische und militärische Folgen hatte. Wir erleben nun eine rasend schnelle Verschiebung des Kraftzentrums der Weltwirtschaft. Der Schwerpunkt verlagert sich weg von der westlichen Welt hin zu Schwellenländern wie China, Indien und Brasilien. Die Wirtschaftskraft der sich entwickelnden Länder entspricht schon fast der des Westens. Dieser Prozess nimmt an Tempo zu und wird durch die Finanzkrise des Westens begünstigt.
Was bedeutet das für die Ausstrahlungskraft westlicher Werte?
Für die Kulturen, Nationalgeschichten, Traditionen, Werte vieler anderer Regionen der Welt hat sich der Westen nie interessiert. Er musste das nicht, weil er die Welt nach seinen eigenen Vorstellungen formen konnte. Das ist Vergangenheit. Jetzt wird es schwierig für den Westen, da die wirtschaftliche Macht sich verschiebt, es wird sehr schwierig. Wir kommen aus einer Welt, in der uns alles vertraut war, in eine Welt, die uns immer fremder wird. Sie wird gestaltet von den Kulturen und Traditionen, die uns bislang egal waren. Das heißt nicht, dass alle unsere Werte verschwinden. Aber sie werden sich im Wettbewerb behaupten müssen.
Was bedeutet das für den Anspruch auf die universale Gültigkeit der Menschenrechte?
Ich glaube, dass alle Völker und Kulturen ihre eigene Weisheit hervorbringen und die Menschenrechte aus ihrer eigenen Geschichte begründen können. Das gehört zur menschlichen Erfahrung. Die Entwicklung muss insgesamt nicht zum Schaden des Westens sein. Es wird zwar bei uns viele Menschen geben, die das nicht mögen, was auf uns zukommt. Aber es wird uns zu wirklichen Kosmopoliten, zu Weltbürgern machen.
Herr Jacques, darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen. Sie sind der Autor eines viel diskutierten Buches über China, aber Ihre Frau starb als Opfer von chinesischem Rassismus. Was war passiert?
Hari war Malayin indischer Herkunft und Rechtsanwältin. Wir lebten damals in Hongkong, und sie erlebte wirklich schlimmen Rassismus von Seiten der Chinesen. Wenn sie in meiner Begleitung, in der eines Weißen war, änderte das alles. Wenn sie allein war, wurde es schlimm. Sie konnte dann nicht einmal ein Taxi nehmen, sie hielten nicht an. In Restaurants wurde sie nicht bedient. In der Nacht zur Millenniumfeier, es war ihr 33. Geburtstag, erlitt Hari einen epileptischen Anfall und wurde ins Krankenhaus gebracht. Als ich sie am nächsten Tag besuchte, zeigten die Ärzte kein großes Interesse. Ich war erschüttert, als sie mir sagte: „Ich bin hier der letzte Dreck.“ So wurde sie vom medizinischen Personal behandelt. Ich überlegte noch, sie mitzunehmen, aber ich machte einen schrecklichen Fehler und ließ sie dort. Am nächsten Morgen wurde ich angerufen und raste ins Krankenhaus. Hari hatte einen zweiten Epilepsieanfall, sie erlitt dabei einen Atem- und Herzstillstand. Nur Schwestern waren an ihrem Bett, ein Arzt war nicht in der Nähe. Man hatte sich nicht um sie gekümmert.
Sie haben auf diesen Verlust auch politisch reagiert. Wie?
Ich habe das in einer Kampagne öffentlich gemacht, ich habe Zeitungen und TV-Stationen informiert, der Vorfall wurde ein internationales Thema. Im Jahr 2008 erließ Hongkong ein Gesetz gegen Rassismus. Es ist kein starkes Gesetz, aber es ist ein Anfang. Ich habe auch das Krankenhaus verklagt. Sie haben sich auf einen Vergleich eingelassen, wenige Tage bevor der Fall vor dem Obersten Gericht in Hongkong aufgerufen werden sollte.
Warum haben Sie das Buch „When China Rules the World“ trotzdem fertiggeschrieben?
Es war eine schreckliche Erfahrung, meine Frau zu verlieren. Ich konnte jahrelang keine Zeile schreiben. Aber ich wollte nicht selbst so werden die chinesischen Rassisten. Man darf Vorurteilen nicht mit neuen Vorurteilen begegnen. Denn Vorurteile töten. Aber so dachte mein Kopf, mein Herz fühlte ganz anders. Ich hatte mein Buch damals schon angefangen. Und als ich wieder schreiben konnte, war mir klar, dass ich auch über den Rassismus der Chinesen schreiben musste. Indien, Brasilien oder die USA sehen sich als multiethnische, multikulturelle Staaten. Doch 92 Prozent der Chinesen glauben, dass sie einer eigenen Rasse, den Han-Chinesen, angehören.
Hans Monath